Pflichtteilsergänzungsanspruch - Entstehung, Höhe, Anrechnung

Grundlegendes

Hat der Erblasser einem Dritten eine Schenkung gemacht, so kann der Pflichtteilsberechtigte gemäß § 2325 BGB als Ergänzung des Pflichtteils den Betrag verlangen, um den sich der Pflichtteil erhöht, wenn der verschenkte Gegenstand dem Nachlass hinzugerechnet wird. Der Pflichtteilsergänzungsanspruch ist ein selbständiger, außerordentlicher Pflichtteilanspruch, der neben dem ordentlichen Pflichtteilanspruch steht, unabhängig von diesem entsteht und von dessen tatsächlichem Bestehen unabhängig ist, dieses also nicht voraussetzt.  Er ist nicht auf eine wertmäßige dingliche Beteiligung am Nachlass gerichtet, weil der Gegenstand der Schenkung nicht zum Nachlass gehört, sondern ein nur auf Zahlung von Geld gerichteter Anspruch.

Zum ordentlichen Pflichtteilsanspruch verweisen wir auf den Beitrag Pflichtteil: Höhe des Pflichtteils, Anrechnung von Zuwendungen, Auskunft und Stufenklage.

Schenkung

Der Pflichtteilsergänzungsanspruch setzt dem Wortlaut des § 2325 Abs. 1 BGB nach voraus, dass der Erblasser einem Dritten eine Schenkung gemacht hat. § 2325 BGB verwendet den Schenkungsbegriff des § 516 BGB (BGH NJW 1972, 1709). 

Eine Schenkung im Sinne des § 516 BGB erfordert objektiv eine Bereicherung des Empfängers durch eine unentgeltliche Zuwendung aus dem Vermögen eines anderen und subjektiv eine Einigung von Schenker und Beschenktem über die Unentgeltlichkeit. Die Einräumung eines unentgeltlichen schuldrechtlichen Wohnrechts ist daher eine Schenkung (BGH Beschluss vom 11.07.2007- IV ZR 218/06). 

Zahlt der Erblasser zu Lebzeiten an einen Dritten (z.B. eine Bank) Beiträge ein und vereinbart er mit dem Dritten, dass bei seinem Ableben eine bestimmte Person den Betrag erhält, so liegt in der Regel eine lebzeitige Schenkung vor. 

Wendet der Erblasser die Todesfallleistung aus einem Lebensversicherungsvertrag einem Dritten über ein widerrufliches Bezugsrecht schenkweise zu, so liegt hierin eine Schenkung (BGH, Urteil vom 28. 4. 2010 - IV ZR 73/08).

Eine unbenannte Zuwendung unter Ehegatten ist im Erbrecht trotz Fehlens des subjektiven Elementes grundsätzlich wie eine Schenkung zu behandeln (BGH Urteil vom 27. November 1991, IV ZR 164/90). Keinen Pflichtteilsergänzungsanspruch lösen allerdings Zuwendungen

  • zur Erfüllung unterhaltsrechtlicher Verpflichtungen aus (BGH Urteil vom 27. November 1991, IV ZR 164/90),
  • zur Vergütung langjähriger Dienste im Rahmen des objektiv Angemessenen (BGH Urteil vom 27. November 1991, IV ZR 164/90),
  • mit dem Zweck des Aufbaus einer angemessenen Altersvorsorge, auch wenn sie unterhaltsrechtlich nicht geschuldet sind (OLG Schleswig-Holstein, Urteil vom 16.2.2010 – 3 U 39/09ZEV 2010, 369) und
  • zum Ausgleich ehebedingt verursachter Einkommens- und Vermögensverlustes. 

Die Finanzierung eines gemeinsam gekauften Hauses durch beide Ehegatten kann einen Pflichtteilsergänzungsanspruch auslösen, wenn der alleinverdienende Partner die Finanzierung alleine die Kreditraten gezahlt hat (OLG Schleswig-Holstein, Urteil vom 10.12.2013, 3 U 29/13).

Auf eine Anstandsschenkung finden die Vorschriften über die Pflichtteilsergänzung keine Anwendung (§ 2330 BGB).

Bewertung

Eine verbrauchbare Sache kommt mit dem Wert in Ansatz, den sie zur Zeit der Schenkung hatte,  § 2325 (2) BGB. Ein anderer Gegenstand kommt mit dem Wert in Ansatz, den er zur Zeit des Erbfalls hat; hatte er zur Zeit der Schenkung einen geringeren Wert, so wird nur dieser in Ansatz gebracht, § 2325 (2) BGB.

Bei Begünstigung aus einer Kapitallebensversicherung ist der Rückkaufwert im Zeitpunkt unmittelbar vor dem Tod maßgebend (BGH, Urteil vom 28. 4. 2010 - IV ZR 73/08). 

Abschmelzungsregel 

Grundsatz

Eine Schenkung findet immer weniger Berücksichtigung, je mehr Zeit seit der Schenkung vergangen ist, § 2325 Abs. 3 BGB:

Schenkung war 

Berücksichtigung bei § 2325 BGB

im 1. Jahr vor dem Erbfall

100 %

im 2. Jahr vor dem Erbfall

90 %

im 3. Jahr vor dem Erbfall

80 %

im 4. Jahr vor dem Erbfall

70 %

im 5. Jahr vor dem Erbfall

60 %

im 6. Jahr vor dem Erbfall

50 %

im 7. Jahr vor dem Erbfall

40 %

im 8. Jahr vor dem Erbfall

30 %

im 9. Jahr vor dem Erbfall

20 %

im 10 Jahr vor dem Erbfall

10 %

im 11 Jahr vor dem Erbfall oder früher

0 %


Leistung

Die Frist des § 2325 Abs. 3 BGB läuft erst ab der "Leistung" der Schenkung. Eine Leistung im Sinne von § 2325 Abs. 3 Halbsatz 1 BGB liegt vor, wenn der Erblasser nicht nur seine Rechtsstellung als Eigentümer endgültig aufgibt, sondern auch darauf verzichtet, den verschenkten Gegenstand - sei es aufgrund vorbehaltener dinglicher Rechte oder durch Vereinbarung schuldrechtlicher Ansprüche - im Wesentlichen weiterhin zu nutzen (BGH IV ZR 132/93, BGHZ 125, 395, 398 f.). Eine Schenkung gilt nicht als geleistet, wenn der Erblasser den "Genuss" des verschenkten Gegenstandes nach der Schenkung nicht auch tatsächlich entbehren muss (BGH vom 17. September 1986 - IVa ZR 13/85, BGHZ 98, 226, 232). Wird bei einer Schenkung daher der Nießbrauch uneingeschränkt vorbehalten, ist der "Genuss" des verschenkten Gegenstandes nicht aufgegeben worden (BGH, Urteil vom 29. Juni 2016 - IV ZR 474/15). 

Das dem Erblasser eingeräumte Wohnungsrecht hemmt den Beginn der Abschmelzungsfrist gemäß § 2325 Abs. 3 BGB, wenn es an allen relevanten Räumen des verschenkten Hauses besteht, so dass der Erwerber insoweit keine eigene Nutzungsmöglichkeit hatte (OLG München, Endurteil v. 08.07.2022 – 33 U 5525/21). 

Schenkung an den Ehegatten

Bei Schenkungen unter Ehegatten beginnt die Frist des § 2325 Abs. 3 BGB erst mit der Beendigung der Ehe, § 2325 BGB.

Beispiel: Erblasser E schenkt seiner Ehefrau 1995 eine Wohnung mit einem Wert von EUR 500.000,--. Die Ehe wird 2000 geschieden. 2010 verstirbt E. Die Frist läuft erst seit 2000.

Anrechnung von Schenkungen an den Pflichtteilsberechtigten

Geschenke, die der Pflichtteilsberechtigte selbst vom Erblasser erhalten hat, unabhängig von einer Anrechnungsbestimmung auf seinen Pflichtteilsergänzungsanspruch anzurechnen (§ 2327 BGB). 

Merke: Anders als beim eigentlichen (sog. ordentlichen) Pflichtteilsanspruch sind Schenkungen also auch dann anzurechnen, wenn es an einer Anrechnungsbestimmung fehlt.

Soweit der Erbe zur Erfüllung des Pflichtteilsergänzungsanspruches nicht verpflichtet ist (z.B. weil er selbst nur den Pflichtteil erhalten hat), kann sich der Pflichtteilsberechtigte an den Empfänger des Geschenkes halten (§ 2329 BGB). 

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