Leitsätze
1. Der Erwerber eines erbschaftsteuerrechtlich begünstigten Familienheims ist aus zwingenden Gründen an dessen Nutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert, wenn die Selbstnutzung objektiv unmöglich oder aus objektiven Gründen unzumutbar ist. Zweckmäßigkeitserwägungen reichen nicht aus.
2. Gesundheitliche Beeinträchtigungen können zwingende Gründe darstellen, wenn sie dem Erwerber eine selbständige Haushaltsführung in dem erworbenen Familienheim unzumutbar machen.
BFH Urteil vom 01. Dezember 2021, II R 18/20
Auszug aus den Gründen
"a) Nach § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 5 ErbStG fällt die Steuerbefreiung mit Wirkung für die Vergangenheit weg, wenn der Erwerber das Familienheim innerhalb von zehn Jahren nach dem Erwerb nicht mehr zu Wohnzwecken selbst nutzt, es sei denn, er ist aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert (sog. Nachversteuerungstatbestand, vgl. BFH-Urteil vom 11.07.2019 - II R 38/16, BFHE 265, 437, BStBl II 2020, 314, Rz 11).
b) Die Steuerbefreiungsvorschrift ist eng auszulegen. Damit begegnet sie keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BFH-Urteil vom 29.11.2017 - II R 14/16, BFHE 260, 372, BStBl II 2018, 362, Rz 27, m.w.N.). Entsprechendes gilt für die in § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 5 Halbsatz 2 ErbStG geregelte Rückausnahme von der Nachversteuerung.
c) Tritt der Nachversteuerungstatbestand ein, ist der Steuerbescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu ändern. Nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO beginnt in diesen Fällen die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem das Ereignis eintritt.
2. In dem Merkmal "aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert" müssen sich die Hinderungsgründe auf die Selbstnutzung des betreffenden Familienheims beziehen. Ob der Erwerber an einem anderen Ort einen Haushalt führen kann, ist nicht entscheidend. Der Senat teilt nicht die Auffassung, die Unmöglichkeit, selbständig einen Haushalt zu führen, müsse sich auf das Führen eines eigenen Haushalts schlechthin ‑‑d.h. auch an einem anderen Ort als in dem erworbenen Familienheim‑‑ beziehen (so die Urteile des FG Münster vom 31.01.2013 - 3 K 1321/11 Erb, EFG 2013, 715, Rz 42, und vom 10.12.2020 - 3 K 420/20 Erb, EFG 2021, 385, Revision II R 1/21; offengelassen im Urteil des Hessischen FG vom 10.05.2016 - 1 K 877/15, juris, Rz 19 f.; kritisch auch Jülicher in Troll/Gebel/Jülicher/Gottschalk, ErbStG, § 13 Rz 72a; Curdt in Kapp/Ebeling, § 13 ErbStG, Rz 39.5).
a) Die Nachversteuerung setzt nach dem Gesetzeswortlaut zunächst voraus, dass "der Erwerber das Familienheim ... nicht mehr zu Wohnzwecken selbst nutzt". Die unmittelbar folgende Wendung "an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert" kann nur die Selbstnutzung des betreffenden Familienheims meinen. Sie bezieht sich nicht auf die Führung jeglichen Haushalts auch andern Orts.
b) Eine solche (ungeschriebene) Voraussetzung verfehlte zudem die Zielrichtung der Vorschrift. Die Begünstigung des Familienheims in § 13 Abs. 1 Nr. 4c ErbStG soll u.a. das Familiengebrauchsvermögen erhalten und den gemeinsamen familiären Lebensraum schützen (vgl. BTDrucks 16/11107, S. 9). Bei Aufgabe der Selbstnutzung fällt dieses Schutzziel fort. Soweit das Gesetz aus Billigkeitsgründen zugunsten eines Erwerbers den Nachversteuerungstatbestand mit einer Rückausnahme wegen einer Zwangslage versieht, kann diese sinnvoll nur so verstanden werden, dass sich die Zwangslage gerade auf das nicht mehr erfüllte Tatbestandsmerkmal mit dem entsprechenden Schutzziel bezieht. Das ist die Selbstnutzung des Familienheims mit dem familiären Lebensraum. Das verfassungsrechtliche Gebot enger Auslegung vermag keine zweckwidrige Auslegung zu rechtfertigen. Dem entsprechend ging das Vorstellungsbild bereits im Gesetzgebungsverfahren dahin, die Steuerbefreiung zu belassen, wenn zwingende Gründe das selbständige Führen eines Haushalts "in dem erworbenen Familienheim" unmöglich machen (BTDrucks 16/11107, S. 9).
3. Der Erwerber muss aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung des Familienheims zu eigenen Wohnzwecken gehindert sein. Es reicht nicht aus, wenn sich der Erwerber nur aufgrund persönlicher oder wirtschaftlicher Zweckmäßigkeitserwägungen an der Selbstnutzung gehindert fühlt.
a) Das Merkmal "zwingend" schließt Gründe aus, kraft derer die Beendigung der Selbstnutzung aus Sicht des Erwerbers nachvollziehbar und auch verständig scheint, jedoch Gegenstand seiner freien Entscheidung ist. Es gehört dann zur privaten Lebensgestaltung des Erwerbers, ob und wie er das Familienheim nutzen möchte. Das ist insbesondere der Fall, wenn es nach Art und Gestaltung nicht den persönlichen Vorstellungen des Erwerbers entspricht.
b) Der Erwerber ist hingegen aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung des Familienheims zu eigenen Wohnzwecken gehindert, wenn diese ihm unter den konkreten Umständen objektiv unmöglich oder unzumutbar wird. Das entspricht dem Billigkeitscharakter der Vorschrift.
aa) Zwingende Gründe liegen vor, wenn dem Erwerber die Selbstnutzung des Familienheims objektiv unmöglich wird, sie sind jedoch nicht auf diese Fälle beschränkt. Andernfalls erschöpfte sich der Anwendungsbereich der Rückausnahme praktisch im Tod des Erwerbers. Eine solche Regelung war ersichtlich nicht gesetzgeberisches Ziel. Selbst der Fall der Pflegebedürftigkeit, der im Gesetzgebungsverfahren als Beispiel diente (BTDrucks 16/11107, S. 9) und auch von der Finanzverwaltung übernommen wurde (R E 13.4 Abs. 6 Satz 9 sowohl der Erbschaftsteuer-Richtlinien 2011 vom 19.12.2011, BStBl I 2011, Sondernummer 1/2011, S. 2, als auch der Erbschaftsteuer-Richtlinien 2019 vom 16.12.2019, BStBl I 2019, Sondernummer 1/2019, S. 2), begründet regelmäßig keine objektive Unmöglichkeit. Die Pflege kann im Allgemeinen auch mit Hilfe entsprechender Dienste im eigenen Heim durchgeführt werden. Ob dies wirtschaftlich sinnvoll ist, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit.
bb) Vielmehr ist es erforderlich, aber auch ausreichend, wenn dem Erwerber aus objektiven Gründen die Selbstnutzung des Familienheims nicht mehr zuzumuten ist. Dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen, um eine verfassungswidrige Begünstigung zu vermeiden. Ein abgeschlossener Katalog von Gründen besteht jedoch nicht.
cc) Wann mit dieser Maßgabe von zwingenden Gründen auszugehen ist, ist nach § 118 Abs. 2 FGO Gegenstand der tatsächlichen Würdigung durch das FG. Maßgeblich ist die Gesamtwürdigung aller Tatsachen. Das gilt auch für die Frage, welche Rückschlüsse aus der Lebensführung des Erwerbers nach Verlassen des Familienheims gezogen werden können, insbesondere aus dem Umzug in einen anderen selbst geführten Haushalt oder in eine Wohnform mit Betreuung und Pflege.
dd) Die Feststellungslast für diejenigen Umstände, die eine Selbstnutzung des Familienheims objektiv unmöglich machen oder aus objektiven Gründen unzumutbar erscheinen lassen, trägt der Erwerber (vgl. BFH-Urteil in BFHE 273, 554, Rz 23).
c) Nach diesen Kriterien kann ein zwingender Grund i.S. von § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 5 Halbsatz 2 ErbStG auch vorliegen, wenn der Erwerber zwar unter Zuhilfenahme externer Hilfe- und Pflegeleistungen in der Lage ist, weiter in dem erworbenen Familienheim zu leben, diese jedoch ein solches Ausmaß annehmen, dass nicht mehr von einer selbständigen Haushaltsführung des Erwerbers in dem betreffenden Familienheim gesprochen werden kann. Allein die regelmäßige Inanspruchnahme der üblichen Unterstützungsleistungen genügt dafür allerdings nicht. Bereits den Gesetzgebungsmaterialien ist zu entnehmen, dass zwingende Gründe solche sind, die das "selbständige Führen" eines Haushalts in dem erworbenen Familienheim unmöglich machen (BTDrucks 16/11107, S. 9). Dieses Abgrenzungskriterium entspricht der Zielsetzung der Vorschrift, den gemeinsamen familiären Lebensraum zu schützen. Vermag der Erwerber diesen Lebensraum nicht mehr aus im Wesentlichen eigener Kraft auszufüllen, ist das Familienheim zur äußeren Hülle entwertet.
d) Ist der Erwerber aus zwingenden Gründen an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert, führt weder die Aufgabe des Eigentums an dem Familienheim (dazu BFH-Urteil in BFHE 265, 437, BStBl II 2020, 314) noch der Abriss des Gebäudes zur Nachversteuerung. Ist die Beendigung der Selbstnutzung des Familienheims aus den oben dargestellten zwingenden Gründen erbschaftsteuerrechtlich unschädlich, muss dies auch ‑‑als Annex‑‑ für eine spätere Veräußerung oder einen späteren Abriss gelten. Wenn der Schutzzweck des § 13 Abs. 1 Nr. 4c Satz 1 ErbStG aus zwingenden Gründen nicht mehr erfüllt werden kann, hat die Entäußerung des Familienheims keine Bedeutung mehr."
Anmerkung
Das Urteil setzt enge Grenzen für die Vermeidung der Nachversteuerung bei einem Familienheim i.S.v. § 13 ErbStG . Betroffene sollten daher vor Auszug sich beraten lassen und etwaige gesundheitliche Beeinträchtgungen, die einen Auszug zwingend erforderlich machen, dokumentieren.