FG Düsseldorf zur Vereinbarkeit von § 16 Abs. 2 ErbStG und § 10 Abs. 6 ErbStG mit EU-Recht

Das FG Düsseldorf hat mit Beschluss vom 20.07.2020 - 4 K 1095/20 Erb den EuGH um eine Vorabentscheidung zu folgenden Fragen ersucht:

Sind die Artikel 63 Absatz 1 und 65 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung eines Mitgliedstaats über die Erhebung der Erbschaftsteuer entgegenstehen, die hinsichtlich der Berechnung der Steuer vorsieht, dass der Freibetrag auf die Steuerbemessungsgrundlage im Fall des Erwerbs von im Inland belegenen Grundstücken dann, wenn der Erblasser zur Zeit seines Todes und der Erbe zu dieser Zeit ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hatten, niedriger ist als der Freibetrag, der zur Anwendung gekommen wäre, wenn zumindest einer von ihnen zu diesem Zeitpunkt seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im erstgenannten Mitgliedstaat gehabt hätte?

Sind die Artikel 63 Absatz 1 und 65 AEUV dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung eines Mitgliedstaats über die Erhebung der Erbschaftsteuer entgegenstehen, die hinsichtlich der Berechnung der Steuer vorsieht, dass Verbindlichkeiten aus Pflichtteilen im Fall des Erwerbs von im Inland belegenen Grundstücken dann, wenn der Erblasser zur Zeit seines Todes und der Erbe zu dieser Zeit ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hatten, nicht abziehbar sind, während diese Verbindlichkeiten vollständig von dem Wert des Erwerbs von Todes wegen abziehbar wären, wenn zumindest der Erblasser oder der Erbe zu dem Zeitpunkt des Todes des Erblassers seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im erstgenannten Mitgliedstaat gehabt hätte?

Beim EuGH wird das Vorlageverfahren unter dem Aktenzeichen C-394/20 (Finanzamt V) geführt. 

Aus den Gründen des Beschlusses des FG Düsseldorf: 

"(...)

30. Der Senat hat Zweifel, ob § 16 Absatz 2 ErbStG mit Artikel 63 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 65 AEUV vereinbar ist.

31. Der deutsche Gesetzgeber hat als Reaktion auf das Urteil des EuGH vom 8. Juni 2016 in der Rechtssache C-479/14 (ECLI:EU:C:2016:412) in § 16 Absatz 2 ErbStG eine Neuregelung eingeführt. Danach ist für Erwerbe, für welche die Steuer nach dem 24. Juni 2017 entsteht (§ 37 Abs. 14 ErbStG), der Freibetrag des § 16 Absatz 1 ErbStG um einen nach Maßgabe des § 16 Absatz 2 Satz 2 und 3 ErbStG zu berechnenden Teilbetrag zu mindern.

32. Der Senat hat Zweifel, dass diese Neuregelung mit Art. 6365 AEUV in ihrer Auslegung durch den EuGH zu vereinbaren ist. Der EuGH hat bereits entschieden, dass die Benachteiligung des Erwerbers durch den geringeren Freibetrag in Höhe von seinerzeit lediglich 2.000 Euro nach § 16 Absatz 2 ErbStG in der Fassung des Artikels 1 des Gesetzes zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts vom 24. Dezember 2008 (Bundesgesetzblatt Teil I, Seite 3018) in den Fällen der beschränkten Steuerpflicht (§ 2 Absatz 1 Nummer 3 ErbStG) nicht mit der Notwendigkeit gerechtfertigt werden kann, die Kohärenz des deutschen Steuersystems zu wahren (EuGH, Urteil vom 17. Oktober 2013 Rs. C-181/12 ECLI:EU:C:2013:662, Randnr. 61). Ferner hat der EuGH in einem § 16 Absatz 2 ErbStG alter Fassung betreffenden Vertragsverletzungsverfahren entschieden, dass kein Rechtfertigungsgrund für eine unterschiedliche Behandlung von Erwerbern in den Fällen der unbeschränkten und beschränkten Steuerpflicht besteht (EuGH, Urteil vom 4. September 2014 Rs. C-211/13 ECLI:EU:C:2014:2148, Randnr. 49 ff.). Zudem hat Generalanwalt Mengozzi in seinen Schlussanträgen vom 12. Juni 2013 in der Rechtssache C-181/12 (ECLI:EU:C:2013:384) unter Randnr. 84 f. ausgeführt, dass der Freibetrag des § 16 Absatz 1 Nummer 1 ErbStG dem Erwerber in den Fällen der beschränkten Steuerpflicht ungekürzt zuzustehen habe. Eine Kürzung dieses Freibetrags hat Generalanwalt Mengozzi abgelehnt, obgleich nach den Ausführungen des Senats in seinem der Rechtssache C-181/12 zugrunde liegenden Vorlagebeschluss vom 2. April 2012 unter Randnr. 16 rechnerisch auch die Gewährung des Freibetrags in Höhe von etwa 62 % in Betracht gekommen wäre.

33. Der Senat hat auch Zweifel, ob § 10 Absatz 6 Satz 2 ErbStG mit Artikel 63 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 65 AEUV vereinbar ist.

34. Im Streitfall liegt ein Fall der beschränkten Steuerpflicht vor, weil weder der Erblasser noch die Klägerin im Zeitpunkt des Todes des Erblassers in Deutschland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatten (§ 2 Absatz 1 Nummer 3 Satz 1 ErbStG). Das beklagte Finanzamt hat deshalb nur das inländische Grundvermögen der Besteuerung unterworfen (§ 121 Nummer 2 BewG).

35. § 10 Absatz 6 Satz 2 ErbStG hat im Streitfall zur Folge, dass die Klägerin von ihrem Erwerb von Todes wegen die von ihr zu erfüllenden Verbindlichkeiten aus den Pflichtteilen ihrer Mutter und ihres Bruders überhaupt nicht gemäß § 10 Absatz 5 Nummer 2 ErbStG als Nachlassverbindlichkeiten abziehen kann. Denn nach § 10 Absatz 6 Satz 2 ErbStG sind in den Fällen der beschränkten Steuerpflicht, in denen sich die Besteuerung auf einzelne Vermögensgegenstände beschränkt (§ 2 Absatz 1 Nummer 3 ErbStG), nur die damit in wirtschaftlichem Zusammenhang stehenden Schulden und Lasten abzugsfähig.

36. Nach der Rechtsprechung des deutschen Bundesfinanzhofs (BFH) liegt ein von § 10 Absatz 6 Satz 1 und 2 ErbStG vorausgesetzter wirtschaftlicher Zusammenhang nur dann vor, wenn die Schulden oder Lasten bestimmten zum Nachlass gehörenden Vermögensgegenständen zugeordnet werden können. Die Bemessung des Pflichtteils nach dem Wert des Nachlasses (§ 2311 BGB) begründet hiernach keinen wirtschaftlichen Zusammenhang, sondern allenfalls einen rechtlichen Zusammenhang der Pflichtteilverbindlichkeit mit den zum Nachlass gehörenden Vermögensgegenständen (BFH, Urteil vom 22. Juli 2015 II R 12/14, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Band 250, Seite 225).

37. Entsprechendes gilt nach Überzeugung des Senats im Streitfall für den der Mutter und dem Bruder der Klägerin nach österreichischem Recht zustehenden Pflichtteil. Auch diese Ansprüche können keinem bestimmten zur Verlassenschaft gehörenden Vermögensgegenstand zugeordnet werden. Vielmehr ist nach § 756 ABGB der Pflichtteil lediglich ein Anteil am Wert des Vermögens des Verstorbenen, der dem Pflichtteilsberechtigten zukommen soll. Nach § 759 ABGB bemisst sich die Höhe der pflichtteilsberechtigten Person nach der Hälfte dessen, was ihr nach der gesetzlichen Erbfolge zustünde. Gemäß § 761 Absatz 1 Satz 1 ABGB ist der Pflichtteil grundsätzlich in Geld zu leisten.

38. § 10 Absatz 6 Satz 2 ErbStG führt demnach im Streitfall dazu, dass die Klägerin noch nicht einmal einen Teilbetrag der von ihr zu erfüllenden Pflichtteile ihrer Mutter und ihres Bruders als Nachlassverbindlichkeiten gemäß § 10 Absatz 5 Nummer 2 ErbStG abziehen kann. Hätte der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes oder hätte die Klägerin in diesem Zeitpunkt in Deutschland einen Wohnsitz oder einen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt und läge deshalb ein Fall der unbeschränkten Steuerpflicht vor (§ 2 Absatz 1 Nummer 1 Satz 2 Buchstabe a ErbStG), könnte die Klägerin die Pflichtteile ihrer Mutter und ihres Bruders als Nachlassverbindlichkeiten uneingeschränkt gemäß § 10 Absatz 5 Nummer 2 ErbStG von ihrem Erwerb von Todes wegen abziehen.

39. Nach Auffassung des Senats ist es zweifelhaft, dass diese unterschiedliche Behandlung von Inländern und von nicht in Deutschland wohnenden Personen durch § 10 Absatz 6 Satz 2 ErbStG mit Artikel 63 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 65 AEUV zu vereinbaren ist. Der EuGH hat in Bezug auf Erbschaften bereits entschieden, dass zu den Maßnahmen, die als Beschränkungen des Kapitalverkehrs nach Artikel 63 Absatz 1 AEUV verboten sind, solche gehören, die eine Wertminderung des Nachlasses dessen bewirken, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem ansässig war, in dem sich die betreffenden Vermögensgegenstände befinden und der den Erwerb von Todes wegen besteuert (EuGH, Urteil vom 23. Februar 2006 Rs. C-513/03ECLI:EU:C:2006:131 Randnr. 44; vom 17. Oktober 2013 Rs. C-181/12ECLI:EU:C:2013:662 Randnr. 23 sowie vom 26. Mai 2016 Rs. C-244/15ECLI:EU:C:2016:359 Randnr. 28). Unzulässig ist es hiernach, bei der Besteuerung eines Erwerbs von Todes wegen zwischen zum Zeitpunkt ihres Todes gebietsansässigen und zu diesem Zeitpunkt gebietsfremden Personen zu unterschieden, wie etwa durch Vorschriften über die beschränkte Abzugsfähigkeit von Verbindlichkeiten (EuGH, Urteile vom 11. Dezember 2003 Rs. C-364/01ECLI:EU:C:2003:665 Randnr. 76; vom 11. September 2008 Rs. C-11/07ECLI:EU:C:2008:489 Randnr. 46; vom 11. September 2008 Rs. C-43/07ECLI:EU:C:2008:490 Randnr. 38). (...)"

Anmerkung

Wir meinen, dass § 16 Abs. 2 ErbStG nicht europäisches Recht verletzt, da ansonsten Erwerber bei beschränkter Steuerpflicht besser gestellt wären als bei unbeschränkter Steuerpflicht. 

Hingegen ist nicht ersichtlich, warum der Pflichtteil nicht zumindest anteilig vom steuerpflichtigen Nachlass abgezogen werden können soll. 

In laufenden Verfahren sollte im Hinblick auf die zu erwartende Vorlageentscheidung des EuGH beantragt werden, dass die Steuer insoweit nur vorläufig festgesetzt wird. 

Allgemeine und einführende Informationen zur den besonderen Regeln bei beschränkter Erbschaftsteuerpflicht finden Sie in unserem Beitrag Erbschaftsteuer - besondere Regeln bei beschränkter Steuerpflicht.

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